Sie reiste wie jedes Jahr am zweiten Tag im Januar an. Dafür setzte sie sich am Neujahrsabend in ihr Auto, verabschiedete sich von ihrem Mann und ihren zwei Töchtern und fuhr die ganze Nacht durch. Wie jedes Jahr plagte sie das schlechte Gewissen. Ihr Mann machte ihr keine lauten Vorwürfe, doch sie standen in seinem Gesicht jedes verdammte Jahr. Es war wie eine Sucht für sie. Es würde ihr körperliche Schmerzen bereiten, zu Hause zu bleiben. Sie konnte es sich nicht vorstellen und hat auch noch nie ernsthaft darüber nachgedacht. Einmal in diesen fünfzehn Jahren hat sie ihren Emanzentrip, wie es ihr Schwiegermutter nennt, unterbrochen, weil ihr Kind krank geworden ist. Das hohe Fieber ihrer jüngsten Tochter ließ sie eine Woche früher nach Hause zurückkehren. Sie parkte ihren Wagen hinter der Hütte, die Spuren, die ihr Auto im Schnee hinterließ, würden sie verraten. Wenn er kommen würde, könnte man die Spuren erklären, aber es würde auch niemand fragen. Es war nur ihre Vorsichtsmaßnahme. Sie mussten nach wie vor aufpassen und nicht nachlässig werden. Die Nachbarn, die etwa fünfhundert Meter weiter ihre Hütte haben, hatten sich schon an sie gewöhnt. Jedes Jahr im Januar war dieses Pärchen mittleren Alters da, dachten sie. Man grüßte sich, sprach vielleicht zwei, drei Sätze miteinander und wünschte sich einen schönen Tag. Der Nachbar sagte einmal. „Ihr Mann kann sich glücklich schätzen, dass sie diesen ruhigen Urlaub auch so mögen wie er. Meine Frau hält es hier nur eine Woche am Stück aus und flüchtet immer wieder in die Zivilisation.“ Luise lächelte ihn an und nickte. Was sollte sie auch dazu sagen? Er ist nicht ihr Mann, ihr Mann sitzt zu Hause bei den Kindern, sie gönne sich vier Wochen mit einem anderen und das Jahr für Jahr. Niemand ging es was an, deshalb nickte sie und wünschte ihm einen schönen Tag. Luise hatte noch Zeit, Jochen würde erst heute Abend kommen. Er kam nie am Neujahrstag von seiner Familie weg, vor allem seitdem die Zwillinge größer wurden. Beide hatten ihre Rituale zu Hause und akzeptierten diese. Das war es, was ihre Liebe erhielt, was sie elf Monate aushalten ließ, um dann vier Wochen nur füreinander da zu sein. Sie akzeptierten sich so, wie sie waren. Sie machte Feuer in der Hütte und setzte sich mit der dicken Jacke in den Sessel. Es wird noch einige Zeit dauern, bis das Feuer die Kraft hatte, die Hütte in einen wohligen warmen Zufluchtsort zu verwandeln. Sie nutze die Zeit wie jedes Jahr und dachte nach. War es das alles wert. Jedes Jahr die gleiche Angst, dass ihr Mann sie verlassen wird, wenn sie wieder zu Hause ist. Er tolerierte ihren Willen auszubrechen, von Akzeptieren konnte man nicht reden. Jochen dagegen akzeptierte diesen Schritt, den sie damals gegangen ist. Er wusste, dass er sie sonst für immer verloren hätte. Sie hingegen musste es auch akzeptieren, dass er heiratete und bald darauf Vater wurde. Sieben Jahre war das nun her. Sie wusste nicht, wie es den Kindern ging, ob er gut in seiner Vaterrolle klarkam. Das alles hatte nichts in ihrer Welt zu suchen. Sie wusste, dass es zwei Jungs waren, weil sie Bilder in seinem Portemonnaie gesehen hatte und seine Frau gut aussehend war, wusste sie auch von dem Bild daneben. Luise legte noch etwas Holz in den Ofen. Sie zog die Jacke aus und ging in die Küche. Sie schaute in den Kühlschrank, der immer mit dem wichtigsten Lebensmittel gefüllt wurde, kurz bevor sie anreisten. Der Vermieter hatte auch etwas sauber gemacht. Diesen Service bezahlten sie gerne. Sie fand den Zettel mit den Kosten auf dem Küchentisch. Es war alles aufgeführt, die Miete der Hütte, die Umlagen, die Lebensmittel, die Extras, wie das Einkaufen und die Endreinigung. Der Betrag war unterstrichen. Sie schaute kurz darauf und wunderte sich, warum der Preis sich nicht erhöhte; in den ganzen fünfzehn Jahren bezahlten sie die gleiche Miete. Sie schaute sich um, es war alles wie immer. Nichts hatte sich in all den Jahren geändert. Auch die Angst, dass Jochen nicht kommen würde, war da, wie jedes Jahr. Von Stunde zu Stunde wurde sie nervöser. Lief im Haus hin und her. Sie verfluchte ihren Drang, alles wie immer machen zu müssen. Wenn sie auch erst am zweiten Tag im Januar losfahren würde, müsste sie hier nicht mit schweißnassen Händen bangen. Was, wenn er krank geworden ist? Oder vielleicht auch gestorben? Er war noch nicht so alt, Mitte vierzig, aber man kann Krebs bekommen und sterben, innerhalb eines Jahres. Oder man kann einen Unfall haben. Nichts würde sie erfahren, weil es keine Verbindung zu ihm gab. Es gab nur ihre vier Wochen und die Rechnung der Hütte, wo sie das Geld in bar darunterlegen würden, wie jedes Jahr. Langsam wurde es dunkler. Die Sonne zauberte eine orangefarbene Färbung in den Himmel, die den Schnee noch einmal für diesen Tag glitzern ließ. Luise stand am Fenster und legte ihre Arme um ihren Körper. Das Feuer im Ofen flackerte gleichmäßig und gab seine Wärme ab, trotzdem fror sie. Die Angst, dass er nicht kommen würde, ließ sie zittern. Was würde sie machen? Würde sie wieder nach Hause fahren? Würde sie allein hierbleiben? Wahrscheinlich würde sie warten. Aber würde er es ihr antun? Würde er nicht einen Weg finden, sie zu informieren? Plötzlich raste ihr Herz, die Angst legte sich wie eine Hand um ihren Hals, die langsam zudrückte. In all den Jahren hatte sie ihm nicht gesagt, was sie wirklich für ihn empfindet, dass der Entschluss von damals vielleicht falsch war. Wenn er jetzt nicht käme, würde er es nie erfahren. Oder konnte er es ahnen, weil sie jedes Jahr aufs Neue ihre Ehe riskierte, um bei ihm zu sein. Aber wusste er es überhaupt, was sie auf sich nahm? Sie redeten nie darüber. Alles, was in den elf Monaten zwischen ihren Treffen passiert, hielten sie von dieser Hütte fern. Das war damals seine Bedienung, für vier Wochen sollte sie ihm gehören, nur ihm und sie akzeptierte das. Luise hatte ihm nicht erzählt, dass ihre älteste Tochter vor drei Jahren einen schlimmen Unfall mit dem Fahrrad hatte, der sie Wochen lang im Krankenhaus verweilen ließ. Und dass ihre Kleine mit sechs Monaten einen so schlimmen Infekt hatte, dass sie um ihr Leben bangten. War es richtig, dass alles für vier Wochen aus ihrem Leben zusperren? Gehörten diese Ereignisse nicht auch zu ihr? Und wenn Jochen sie so liebte, müsste er sich doch dafür interessieren. Genauso wie sie sich für seine Jungs interessierte. Wie waren sie in der Schule? Waren sie wie er, ruhig und besonnen? Oder eher kleine Wildfänge? Luises Herz schlug noch etwas schneller, es war nicht wie jedes Jahr. Dieses Jahr war etwas anders. Ihr Herz raste in ihrer Brust, was, wenn er … in diesem Moment sah sie die Scheinwerfer, die sich auf die Hütte zubewegten und erkannte Jochen im Auto. Sie ging zur Tür, öffnete sie und trat einen Schritt heraus. Jochen stieg aus und kam langsam auf sie zu. Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen und schaute sie an. Seine Augen strahlten immer noch die gleiche Wärme aus und doch hatte sich etwas geändert. Sie hatte sich verändert. Luise bekam kein Wort heraus. Jochen räusperte sich, „es ist nicht wie immer!“, stellte er leise fest und Luise nickte. Seine Gesichtszüge veränderten sich. Man konnte die Angst in seinen Augen sehen. „Ist es vorbei?“ Die Worte waren so leise, dass Luise sie kaum wahrnahm. Sie schloss die Augen, versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich in ihren Augenwinkeln gesammelt hatten, schaffte es aber nicht. Sie schüttelte den Kopf, „Nein“, hauchte sie ihm entgegen, „jetzt fängt es erstmals richtig an.“ Er ging die letzten zwei Schritte auf sie zu und nahm sie in den Arm. Luises Schluchzen wurde immer lauter, es war die Last der letzten Jahre, die von ihr abfielen und die Gewissheit, jetzt die richtige Entscheidung getroffen zu haben. 

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