Einfach kann doch jeder

                        1. Nina

»Was machen sie da?« Mit den Händen in der Hüfte stehe ich hinter dem Mann, der mit seinem Kopf in dem Gebüsch hängt. Ich bin empört, so ein Spanner, in aller Öffentlichkeit. 
»Schhhht«, sagt er leise, ohne sich umzudrehen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Auf der einen Seite zieht Mopsdame Molly an ihrer Leine, auf der anderen Seite steht da ein Spanner und beobachtet die Sonnenanbeter im Park. Bei diesem herrlichen Wetter sonnen sich manche Frauen "oben ohne".
Dann höre ich das Klicken eines Fotoapparates. Jetzt ist es mit meiner Geduld am Ende. Er kann doch hier nicht die Leute fotografieren. Ich greife mir mehr Leine von Molly und haue sie auf den Rücken des Spanners. Molly protestiert lautstark.
»Sag mal, spinnst du?« Der Spanner dreht sich um und schaut mich an, als ob er mir an die Gurgel gehen will. 
»Sag mal, spinnst du? Du, du Spanner!«, blaffe ich ihn an.
»Wie kommst du darauf, dass ich hier spanne? Du hast doch nicht mehr alle!« Er tippt sich mit dem Finger an die Stirn. Der Unbekannte steht so dicht vor mir, dass ich seinen Atem spüre, er scheint wirklich aufgebracht. Aber das bin ich auch. 
»Du kannst die Frauen da hinten ja fragen, ob sie einen Abzug haben wollen!« Ich zeige in die Richtung und stelle mich auf die Zehen, um meiner Aussage mehr Größe zu verleihen. Ich komme aber nicht mal annähernd auf Augenhöhe mit diesem arroganten Typen. Verwirrt schaut er in die Richtung und schüttelt ungläubig den Kopf.
»Das denkst du doch nicht wirklich«, laut lachend streicht er sich sein blondes Haar aus dem Gesicht und strahlt mich mit seinen blauen Augen an. Er nimmt seine Kamera und drückt verschiedene Knöpfe. Mir wird heiß, Schweiß bildet sich auf meinen Rücken, was an der Sonne liegen könnte, die heute gnadenlos brennt. Es ist sehr heiß für einen Apriltag. Das Thermometer knackt heute die fünfundzwanzig Grad Marke.
»Hier schau dir das an, möchtest du auch einen Abzug?« Grinsend hält er mir das Gerät vor die Nase. Was ich sehe, lässt mich erröten. Nicht weil es frivol ist, sondern weil mich ein kleines Vogelküken aus einem Nest anschaut. Schadenfroh grinst er mich an. 
»Ich warte.« Mit den Händen auf dem Rücken und seinen Oberkörper leicht nach links und rechts drehend, schaut er aus wie ein kleiner Junge, der freudestrahlend auf etwas wartet. Seine selbstgefällige Art nervt mich. Dass er verdammt gut aussieht, versuche ich zu ignorieren.
»Auf was wartest du denn?« Ich kann mir diese Frage einfach nicht verkneifen, natürlich weiß ich, dass er auf eine Entschuldigung wartet, möchte sie ihm aber nicht geben. Er kratzt sich am Kinn und schaut mich an. Verdammt hübsches Kinn.
»Lass mich mal überlegen. Du beschuldigst mich, ich spanne und mache Bilder von halbnackten Frauen. Außerdem schlägst du mich mit der Hundeleine. Also wenn du mich fragst, musst du dich entschuldigen und wenn du Glück hast, verzeihe ich dir auch.« Mit offenem Mund starre ich ihn an. Sein Aussehen lenkt mich ab. Seine blonden Haare reichen ihm bis zu seinen Ohren, sie wellen sich ungleichmäßig. Manche Locken stehen wild ab von seinem Kopf, als ob sie ein Eigenleben entwickelt haben. Seine Augen strahlen in einem Blau, das an einen Himmel im Hochsommer erinnert. Er überragt mich um mindestens eine Kopflänge. Ich schätze ihn älter als mich, etwa Mitte zwanzig. 
»Na, wie schaut's aus?« Er reißt mich aus meinen Gedanken und ich muss mich räuspern.
»Wozu brauchst du die Bilder eigentlich?« ,frage ich schnippisch. Er lacht laut auf.
»Du kannst es nicht, du kannst nicht einfach sagen ENTSCHULDIGUNG!« Er grinst mich frech an und tippt mir mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Ich finde, wir sollten es morgen nochmal probieren. Komm doch einfach zur selben Zeit wieder her. Ich werde auch hier sein und dann versuchen wir es einfach nochmal. Zum Beispiel mit ‚Hallo, schön dich kennenzulernen‘ oder so in der Art, vielleicht haben wir dann einen besseren Einstieg.« Er dreht sich um und lässt mich stehen, ohne dass ich etwas sagen kann. Plötzlich jault Molly auf und zieht in seine Richtung. Die ganze Zeit hat die Mopsdame faul an meinen Füßen gelegen und nun ist sie wie unter Strom, weil der junge Fotograf sich entfernt. »Verräterin«, murmele ich und ziehe sie in die andere Richtung. Molly dreht sich mehrfach nach ihm um und ich kann mir sein selbstgefälliges Grinsen sehr gut vorstellen, wenn er es sehen würde. Ich beherrsche mich, drehe mich nicht um und ziehe Molly hinter mir her. 
Ich stampfe durch den Park und ärgere mich über diesen Typen, der so arrogant und selbstverliebt ist. Hat er das ernst gemeint, soll ich morgen wirklich dahin gehen? Und dann? Mein Herz schlägt etwas schneller, aber das liegt sicher nur daran, dass es leicht bergauf geht. Er sieht schon verdammt gut aus. 
Sein strahlendes Lächeln erscheint vor meinem inneren Auge, und ich muss seufzen. 
»Dann gehen wir morgen noch mal um dieselbe Zeit in den Park«, sage ich zu Molly. Madame belieben jedoch mich nicht zu beachten. Sie hat ihren Willen nicht bekommen und ist jetzt beleidigt. 
Zu Hause angekommen, gebe ich Molly bei ihrer Besitzerin ab. Frau Schmidt, meine Vermieterin, ist eine sehr nette ältere Dame. Sie nimmt mir ihren Liebling an der Tür ab und entschuldigt sich kurz. »Ich habe meinen Sohn am Telefon«, sagt sie freudestrahlend. »Oh, das freut mich, bestellen sie ihm liebe Grüße.« Sie winkt mir noch zu und schließt dann die Tür. Ich nehme mir fest vor, morgen nach ihm zu fragen. Ich weiß, wie viel ihr die Gespräche mit ihrem Sohn bedeuten, seit er im Ausland wohnt. Während ich die Treppe nach oben steige, überlege ich, meinen Bruder anzurufen. Über ein halbes Jahr ist es jetzt her, seit ich ausgezogen bin. Er fehlt mir. Es wird aber jeden Tag etwas besser. Ich habe mir geschworen, meine Ausbildung hier durchzuziehen, egal wie schwer es wird. Er vermisst mich genauso. Er zeigt es nur nicht so offen, weil er mir meinen Freiraum lassen will. Seit zehn Jahren gibt es nur noch uns beide. Das hat uns sehr zusammen geschweißt.

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